Experimentieren kann als epistemologischer Anspruch der Moderne verstanden werden, Wirklichkeit über Leerstellen und prinzipielle Ergebnisoffenheit zu adressieren. Experimente sind der Zukunft zugewandt, indem sie aus der Vergangenheit eine Gegenwart extrapolieren und so alle drei Zeitebenen zugänglich machen. Experimentieren bedeutet, aktiv einer Situation gegenüberzutreten und epistemische Ungewissheiten als Handlungsspielräume für die Generierung neuen Wissens auszutarieren. Wissen und Nichtwissen sind im Experimentieren ineinander verschränkt. Sie bringen einen eigenen Raum des Forschens hervor, dessen schöpferisches Potenzial immer wieder neue Formen annimmt.
Seitdem das Experiment im 17. Jahrhundert zur grundlegenden empirischen Form neuzeitlicher Naturwissenschaften avancierte, tragen Medien konstitutiv dazu bei, Wirklichkeit experimentell hervorzurufen und Wissen zu produzieren. Zugleich treten sie selbst als Experimentalanordnungen in Erscheinung. Besonders in den apparativen Formationen des 19. Jahrhunderts – etwa der Fotografie, der Kinematographie und der Stereoskopie – definieren Medien eigene Wahrnehmungsfähigkeiten, markieren Subjektpositionen und lassen Experimentierende selbst zum instabilen Objekt werden. Im 20. Jahrhundert lässt sich schließlich eine fortdauernde Expansion experimenteller Formen beobachten. Von einem „Experimental turn“ kann in Bezug auf Lebensweisen, Alltagskulturen, Künste und Populärmedien spätestens seit den 1960er Jahren gesprochen werden.
Experimentelle Aushandlungen von Wirklichkeit sind daher prominent in Wissenschaft und Kunst angesiedelt, aber weder räumlich noch ästhetisch oder diskursiv auf diese Bereiche festgelegt. Dies soll als Anregung für die Medienwissenschaft verstanden werden, alle Bereiche medial bedingten Handelns unter dem Blickwinkel des Experiments und der Experimentalisierung zu befragen. Insbesondere die datenbasierten, mikrotemporalen und räumlich verteilten Zirkulationsformen des Medialen, die die Fassbarkeit von Wirklichkeit implodieren lassen, benötigen aktuell eine weitergehende historische, analytische und theoretische – auf jeden Fall: experimentelle – Beobachtung und Befragung. Das medial zirkulierende Bild des Corona-Virus wirft Fragen an die Medienwissenschaft auf und macht unvermittelt und unverhofft die gesamte Gesellschaft, gerade auch die Universität (Stichwort: Digitale Lehre) zum kommunikativen, sozialen und politischen Experiment.
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