03. – 06.10.2012, Frankfurt am Main
Goethe-Universität Frankfurt am Main
Aus dem Call for Papers:
Die Spekulation hat nicht erst seit der Finanzkrise von 2008 einen schlechten Ruf.
Dass etwas bloße Spekulation sei, meint in der Regel, dass einer Aussage die empirische oder rationale Grundlage fehlt. Dem Klatsch und dem Gerücht verwandt, steht sie unter dem Verdacht der Transgression und der Halbwahrheit. Als Sprech- und Darstellungsregister ist die Spekulation zugleich ein Modus des Populären und ein konstitutives Medium moderner Wissensgesellschaften. Wie schon die Kuriositätenkabinette des 19. Jahrhunderts lebt sie – als öffentliche Mutmaßung, Behauptung und Unterstellung – vom Attraktionswert des Unwahrscheinlichen und von einer Lust an der Abwägung mit einander konkurrierender Wissensangebote und Wahrheitsansprüche. Als Exploration des Virtuellen der Simulation verwandt, ist die Spekulation das Medium der Zukunftsoffenheit par excellence, in dem die Ungewissheit über das, was war und sein wird, narrative Gestalt gewinnt. Medienhistorisch betrachtet, materialisiert sich die Spekulation auch in konkreten Medientechnologien und –praktiken. Verfahren der Zukunftsantizipation wie die Chartanalyse treiben die Spekulation voran und versuchen zugleich ihr das tastende Moment der Unsicherheit zu entziehen, und es entstehen ganze Regime von Spekulationsmedien, die spekulative Verfahren zugleich systematisieren und berechenbar machen sollen.
Wer spekuliert, ist ferner jemand, der mit den Vermögenswerten anderer Leute Geld verdienen will, ohne wirklich zu arbeiten. Im Zeichen der fortschreitenden Integration globaler Märkte ist die Finanzmarktspekulation zum neuen „faszinosum tremendum“ der Kapitalismuskritik geworden und hat dieser zugleich eine Wendung ins Medienanalytische gegeben. Wo Karl Marx dem „Geheimnis der Plusmacherei“ noch durch den Blick hinter die Fabrikmauern auf die Spur kommen wollte, da ist an die Seite – um nicht zu sagen: an die Stelle – einer materialistischen Kapitalismuskritik im Zeichen des Arbeits- und Wertbegriffs mittlerweile die Analyse der Signal- und Zeichenlogik der Finanzmärkte und der symbolischen Formen virtueller Wertschöpfung in den sozialen Netzwerken der digitalen Kommunikation getreten. Wer den Kapitalismus nicht mag, zerbricht sich heute nicht mehr über Ausbeutung den Kopf, sondern reduziert – in Filmen, Büchern und Traktaten – die Ungewissheit über die kommunikativen Tricks, die Täuschungsmanöver und das wahre Ausmaß der Ruchlosigkeit der Spekulanten.
Andererseits ist die „speculatio“, der Rundblick und die Spiegelung im Sinne einer Gesamtsicht der Welt, die lateinische Übersetzung der griechischen „theoria“. Von Augustin bis Hegel und darüber hinaus meint Spekulation das Denken als Reflexion des Ganzen, „eine Methode, die relevante Erkenntnisse hervorbringt“, wie Whitehead sagt, und auf ein „System allgemeiner Ideen“ zielt, „auf dessen Grundlage jedes Element unserer Erfahrung interpretiert werden kann“. Bei Nietzsche tritt die Spekulation als unverzichtbare heuristische Fiktion auf, während für Adorno der „spekulative Überschuss des Denkens übers bloß Seiende ... seine Freiheit“ ist und „motiviert weiter denken als durch Fakten belegt ist“ eine Grundbedingung der Ideologiekritik darstellt. Selbst in der Wissenschaftsphilosophie des 20. Jahrhunderts, etwa bei Adornos zeitweiligem Widersacher Popper, ist Spekulation noch angesetzt als das Ausgreifen ins Mögliche und das Denken des Ungedachten, der Vorlauf zur Theorie, ohne den es so etwas wie Wissenschaft und ihren Fortschritt nicht gibt. Und es hat sich in der jüngeren und jüngsten Theoriebildung keineswegs ausspekuliert. Wenn Isabelle Stengers jüngst dazu aufrief, „die Unterscheidung von Sachverhalten, Dingen und Körpern“ zu vergessen und stattdessen Realität und Prozess zu einander in Beziehung zu setzen, dann redet sie der Spekulation im Anschluss an Whitehead und Deleuze das Wort, während anderswo im Namen eines „spekulativen Realismus“ für die Philosophie und Kulturtheorie der Gegenwart geradezu ein „speculative turn“ ausgerufen wird.
Spekulation im Sinne eines Denkens von und in Spiegelungen gehört ohnehin auch zu den Grundfiguren der Medien- und Kulturtheorie. Lacans Überlegungen zum Spiegelstadium, die nicht nur den Gang der Filmtheorie in den letzten Jahrzehnten wesentlich beeinflussten, handeln gerade von den Grenzen und medialen Bedingungen eines spekulativen Denkens des Ganzen. Die im Grunde simple Einsicht, dass ein Spalt durch das Subjekt geht und das Subjekt seiner selbst nur in der buchstäblichen Reflexion des Spiegelbilds und damit in einer imaginären Ganzheit habhaft werden kann, heißt ja nicht zuletzt, dass das Subjekt, bevor es spekulieren kann, erst einmal selbst spekuliert wird. Ohnehin bildet die Ahnung, dass Reflexion immer vermittelt, also mediatisiert ist und dass die Medien des Denkens selbst spekulieren (also etwa Spiegelbilder schaffen, ohne selbst gespiegelt zu werden), ein Grundthema der Medientheorie und verleiht auch der Kulturtheorie und der philosophischen Spekulation immer schon eine Wendung ins Medienphilosophische. Ob nun, anstatt des „Inhalts“ oder des Sinns, die Materialität der Kommunikation thematisiert wird oder die „Gesellschaft des Spektakels“ und mit ihr das Spekulative der medialen Vorspiegelung falscher Weltverhältnisse in den Blickpunkt der Kritik geraten: Medientheorie, und kritische Medientheorie zumal, ist in diesem Sinne immer Meta-Spekulation.
Die Jahrestagung der GfM lässt sich entsprechend auf die Spekulation in all ihren Formen ein und geht ihrem schlechten Ruf ebenso auf den Grund wie den Risiken und Potentialen, die das Spekulieren birgt. Die Tagung fragt nach den Medien der Spekulation, nach der Spekulation der Medien und nach der Spekulation als Verfahren und Versprechen der Medienwissenschaft.